Kunst & Kultur

Der Duft von Weihrauch…

19. April 2011
Puppengesicht

Puppengesicht

Der Duft von Weihrauch tritt ihr in die Nase. Sie schließt die Augen und atmet ein. „Was mache ich hier“, flüstert sie so leise, dass es niemand hören kann. Um sie herum nur Menschen und Statuen, die sie unentwegt anstarren. Ein Mann, der gegen eine dreiköpfige Schlange kämpft, im Bildhintergrund ist eine Frau zu erkennen. Zerfetzte Kleider und ein ängstlicher Gesichtsausdruck. Der Mann kämpft, die Frau wimmert. Sie lässt sich von ihm beschützen. Er ist der starke Held, sie nur die schwache Frau, die gerettet werden muss. Retten. Muss man sich im Leben nicht selbst retten, überlegt das Mädchen und senkt ihren Blick. Im wahren Leben gibt es keinen Helden, der einen beschützt. Man muss selbst der Held sein. Die Personen um sie herum stehen auf. Sie wird aus ihren Gedanken gerissen und steht automatisch auch auf. Ihre Knie wackeln, ihr Körper zittert. Sie blickt zu der älteren Frau neben ihr. Die Falten scheinen tiefer als sonst, die Augen rot und glasig, der Blick leer. Ein Anblick, den man nicht lange erträgt. Doch sie erträgt ihn. Sie fühlt nichts dabei.

Wie kann man nichts fühlen? Man denkt immer, der Mensch sei ein Gefühls-Wesen, und das unterscheide ihn unter anderem auch vom Tier. Doch was, wenn man nichts fühlt? Wird man dann selbst zur dreiköpfigen Schlange? Sie denkt an ihre Kindheit: „Du bist schon ein großes Mädchen, und große Mädchen weinen nicht.“ Ein einfacher Satz, der das Kind nur beruhigen sollte, doch sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat. Große Mädchen weinen nicht. Große Mädchen zeigen keine Gefühle. Jetzt ist sie ein großes Mädchen und fühlt nichts. Ihre Eltern sind trotzdem nicht stolz auf sie. Schluchzen. Die ältere Dame mit den tiefen Falten zieht ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzt sich. Sie versucht gar nicht leise und unauffällig dabei zu sein. Die anderen scheint dies nicht zu stören. Die Hitze drückt in diesem alten Gebäude. Der Chor singt ein Lied. Die Trauergemeinde steht ein weiteres Mal auf. Es ist Zeit rauszugehen. Sie greift nach ihrer kleinen Tasche und setzt sich langsam in Bewegung. In Zweierreihen verlassen sie das Gebäude. Sie geht an einem Blumenbeet vorbei. Ein paar gelbe Märzenbecher blühen. Die grüne saftige Wiese ist voll von Gänseblümchen und Löwenzahn.

So viel Leben, neben so viel Tod. Sie spürt die Sonne auf ihrem Gesicht, die Wärme. Sie will dieses warme Gefühl nicht. Nicht jetzt. Sie will weinen und schreien. Sie will nicht stark sein müssen. Sie will sich nicht zusammenreißen. Sie will nicht, nichts fühlen. Manchmal muss man die Kraft haben, loszulassen.

Diesen Beitrag habe ich für die Reihe |quergetextet.fremdgefärbt|: Kraft IV geschrieben, welche auf dem Blog „Überbunt“ von Mathias Pascottini erschienen ist.

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